Nachtzugtage: Millay Hyatt ist leidenschaftliche Zugreisende: Es ist der Reiz der »ungepolsterten Begegnung mit der Welt«, der sie noch jedes Flugzeug durch die Reise auf der Schiene tauschen lässt. Sie weiß: In der Fremde und unterwegs sieht man anders, das gilt besonders im Zug, in halber Geschwindigkeit: Das Zugfenster wird zur Verlockung, an ihm laufen bewegte Bilder, ganze Landschaftsfilme vorüber. Im Wagen selbst werden wir zu Voyeuren, die sich für die intimsten Angewohnheiten unserer Mitreisenden interessieren. Wir lauschen dem Streit fremder Paare, zeichnen Psychogramme unserer Sitznachbarn. Auf Schienen kommt ein Denken in Gang, das unsere Gewissheiten stört. Als Reisende gehen wir in eine Schule der Wahrnehmung, in der die eigene Perspektive ins Verhältnis zu anderen gesetzt wird. Die Zugreise verspricht das Glück des Aufbrechens und des Ankommens – und dazwischen die bittersüße Freude der Selbstbefragung.
Millay Hyatt, 1973 in Dallas/Texas, USA, geboren, promovierte Philosophin, lebt als freie Autorin und Übersetzerin in Berlin. Ihre Essays und Erzählungen wurden in diversen Medien publiziert, 2012 erschien ihr Buch Ungestillte Sehnsucht. Wenn der Kinderwunsch uns umtreibt (Ch. Links). 2020 und 2021 erhielt sie Stipendien des Berliner Senats. Aktuell spielt sie in Lola Arias’ Stück Mother Tongue am Gorki Theater in Berlin.